Echte Entscheidungshilfe oder Floskelfiasko – Wie sinnvoll ist das Bewerbungsschreiben?
Im Netz liefern sich Befürworter:innen und Gegner:innen des klassischen Bewerbungsschreibens einen interessanten Schlagabtausch und auch wenn unter Berücksichtigung aller Argumente die Sinnfrage derzeit nur mit einem klaren „Jein“ beantwortet werden kann, zeigt die Praxis eine andere Tendenz. Immer mehr Unternehmen sehen von einem Anschreiben in den Bewerbungsunterlagen ab und verlangen lediglich die Vita des Kandidat:innen. Vorreiter in dieser Hinsicht ist unter anderem die Deutsche Bahn, die bereits seit 2018 auf einen zusätzlichen Bewerbungs- oder Motivationstext verzichtet. Seitdem nehmen sich viele Arbeitgeber ein Beispiel an der niedrigschwelligen Bewerbungspraxis.
Es fehlt die Masse, aus der man sich abheben könnte
Die Taktik ist nachvollziehbar und wird nicht nur von so manchen Bewerbenden begrüßt, der der unliebsamen Aufgabe keine Träne nachweint. Auch Personaler:innen atmen erleichtert auf, denn das Lesen der meist im Floskelfiasko endenden Prosaergüsse ist vor allem eins – ein Zeitfresser. Aus ihrer Sicht ergibt die Aneinanderreihung schmeichelnder Worthülsen wenig Erhellendes, geschweige denn einen Mehrwert für die Entscheidungsfindung. Zumal es sich bei den immer wiederkehrenden Formulierungen der Bewerber:innen in der Regel um Internetvorlagen und nicht um eigenes Gedankengut handelt. Die mit dem Anschreiben angestrebte Differenzierung – das Abheben aus der Masse – gelingt so nur selten. Zum einen, weil sich viele Bewerbungsschreiben letztendlich doch nur in der Anordnung ihrer austauschbaren Phrasen unterscheiden und zum zweiten, weil es „die Masse“, aus der der Bewerber hervorstechen soll, gar nicht mehr gibt.
Schlecht für die Candidate Experience
Der Fachkräftemangel und die Regeln eines Bewerbermarkts zwingen Unternehmen dazu, die Candidate Experience, also das Bewerbungserlebnis, so positiv wie möglich zu gestalten. Heute muss der Arbeitgeber dem Bewerber gefallen und nicht umgekehrt. Unternehmen, die mit unkomplizierten, schnellen Bewerbungsprozessen glänzen, sammeln gleich zu Beginn Pluspunkte und verzichten daher gern auf das Anschreiben. Ohnehin lässt es in den meisten Fällen kaum Rückschlüsse auf die fachliche Eignung des Kandidat:innen zu. Wer gewissenhaft Kranke versorgen, hervorragend programmieren oder blitzschnell mit Zahlen jonglieren kann, stellt sein berufliches Können nicht mit fehlerfreier Orthografie und einer eloquenten Ausdrucksweise unter Beweis. Motivation und Cultural Fit lassen sich zudem besser in einem persönlichen Gespräch überprüfen. Wem nutzt ein Anschreiben dann also noch?
Bewerber:innen möchten die Chance, sich präsentieren zu können
Erstaunlicher Weise ergab eine repräsentative Forsa-Befragung im Auftrag der Jobbörse Jobware, dass trotz des Mehraufwands viele Bewerber die Möglichkeit eines Anschreibens nicht missen möchten. Vor allem Angestellte zwischen 50 und 60 Jahren (62 Prozent) würden sich ohne Anschreiben nicht bewerben wollen. Bei den 18- bis 34-Jährigen ist es immerhin knapp die Hälfte (49 Prozent). Auffällig war auch, dass nur jede dritte Frau auf ein Bewerbungsschreiben verzichten würde, der überwiegende Teil der Umfrage-Teilnehmerinnen lehnt Bewerbungen ohne Anschreiben kategorisch ab. Die Begründung: Das Anschreiben gibt Bewerbern die Chance, ihre Fähigkeiten und die eigene Bewerbungsmotivation ergänzend zum Lebenslauf darzulegen. Arbeitgeber, die auf diese Informationen verzichten, nehmen Bewerbern die Chance, sich bestmöglich zu präsentieren.
Für wen ist ein Anschreiben sinnvoll?
Tatsächlich gibt es eine Reihe von Bewerbersituationen, in denen ein Anschreiben nützliche Erklärungen und Beweggründe liefern kann, für die der Lebenslauf keinen Platz bietet, z. B.
↪️ Quereinsteiger
Wer die Branche wechselt, kann im Lebenslauf in der Regel nicht den Werdegang vorweisen, der für den neuen Job von Vorteil ist. Das Anschreiben bietet den notwendigen Raum, um die persönlichen Beweggründe für den Quereinstieg darzulegen.
👋 Kündigung oder Arbeitslosigkeit
Eine Kündigung vom Arbeitgeber ist immer negativ behaftet. Aber nicht immer ist der Kündigungsgrund oder auch eine Arbeitslosigkeit persönlich verschuldet. Hier kann das Anschreiben Aufschluss geben.
👶 Berufseinsteiger
Die Berufserfahrungen von Schülern, Azubis oder Uni-Absolventen sind überschaubar, ihre Lebensläufe demzufolge wenig aussagekräftig. Interessant sind vielmehr die Zukunftspläne und konkreten Ziele der jungen Bewerber in einem zusätzlichen Motivationsschreiben.
⤵️ Downshifting
Bewerber, die freiwillig die Karriere aufgeben und einen Gang zurückschalten, lassen Zweifel an ihrer Belastbarkeit aufkommen. Diese lassen sich jedoch ausräumen, wenn der Recruiter die Motivation hinter der Entscheidung versteht. Im Lebenslauf ist dafür kein Platz.
Der gesunde Mittelweg
Noch bleibt es also beim klaren Jein zum Bewerbungsschreiben. Etliche Argumente sprechen für die zusätzlichen Zeilen, deren Formulierung vielen so schwer fällt. Wer die Chance darin erkennt, kann seine Bewerbung durchaus aufwerten und persönlicher gestalten. Wer jedoch nur einfallslos Phrasen drischt, weil es eben verlangt wird, kann sich selbst und dem Personaler wertvolle Zeit sparen. Wie so oft führt wohl ein gesunder Mittelweg zum Ziel. Unternehmen, die das Anschreiben lediglich als optionale Ergänzung zu den geforderten Unterlagen anbieten, halten den Bewerbungsprozess schlank, geben Bewerbern aber trotzdem die Chance, ihre Motivation darzulegen – vor allem, wenn der Lebenslauf nicht geradlinig ist oder Lücken aufweist. Auch Alternativen, wie ein Bewerbungsvideo, eine Bewerbungswebsite oder auch ein zeitversetztes Videointerview sind denkbar für diejenigen, denen das Texten schwer von der Hand geht. Letztendlich sollten Recruiter auch mit Blick auf die jeweilige Vakanz entscheiden, welche Informationen sie benötigen, um die Stelle zu besetzen. Zählen klar die fachlichen Qualifikationen, kann auf das Anschreiben getrost verzichtet werden.